Dr. Erhard Eppler zum Tode von Dr. Hermann Scheer

Veröffentlicht am 17.11.2010 in Allgemein

Ob jemand ein politisches Amt antritt, führt oder versteht als eine von vielen Sprossen auf seiner Karriereleiter oder als Chance, etwas zu bewirken, auf ein Ziel hinzuarbeiten, das ihn umtreibt, anspornt und fasziniert, ein Ziel, das alle seine Kräfte fordert, vielleicht sogar überfordert, das ist ein Unterschied, der zählt. Man kann im Umweltministerium ordentlich seine Pflicht tun und dann die Sache, um die es da geht, in dem Augenblick abhaken und vergessen, in dem man dieses Ministerium verlässt. Und man kann sich aber auch als Abgeordneter in die Frage nach der Zukunft dieses herrlichen Erdballs – und der Menschen, die darauf wohnen – so verbeißen, dass jeder Kanzler sich fürchtet, einen so engagierten, in den Augen der Machtmechaniker fanatisierten Menschen in sein Kabinett zu berufen.

Ergriffenheit von einer Sache, Sachbezogenheit, die an Sachbesessenheit grenzt, passt nicht in den Politikbetrieb, der auch in der Demokratie zuerst machtbezogen ist. Eine Regierung, in der alle Minister Feuer gefangen hätten an ihrer Aufgabe, wäre wohl kaum mehr zu gemeinsamem Handeln zu bewegen. Minister müssen dauernd Kompromisse schließen, auch untereinander. Ein Kanzler darf sehr wohl die Loyalität seiner Regierungsmitglieder erwarten und verlangen, und meist hat für ihn oder sie diese Loyalität Vorrang vor jeder Sache, die einen Ressortchef gepackt haben kann.

So konnte auch Hermann Scheer keine politische Karriere machen. Dazu war er keineswegs zu wenig begabt, zu wenig profiliert, zu wenig vital, zu wenig berechenbar, nein, er war zu profiliert, zu vital, man wusste nur zu gut, mit wem man es da zu tun hatte, was von ihm zu erwarten war und was nicht.

Hermann Scheer wusste sehr genau, was Macht ist. Von den üblichen Experten unterschied er sich auch dadurch, dass er Machtverhältnisse in Politik und Wirtschaft nicht nur ernst nahm, sondern auch gründlich und exakt zu analysieren wusste, dadurch, dass er keine Illusionen hatte, wo er mit dem Bestreben rechnen musste, bestehende Macht, etwa der großen Energiekonzerne, zu erhalten oder auszuweiten. Wenn es zum Politiker gehört, dass er in den Kategorien der Macht zu denken, ja zu kalkulieren versteht, dann war Hermann Scheer ein herausragender Politiker. Aber Macht war für ihn das Werkzeug, das zu realisieren, was für ihn wichtig, überlebenswichtig war.

Macht war für Hermann aber auch die Fähigkeit, mit einem Federstrich zunichte zu machen, was an der Zeit und nötig, ja unabweisbar ist. Oder gar die Fähigkeit, der Mehrheit der wichtigsten und mächtigsten Nation dieser Erde – einschließlich der Partei, die dort in den letzten 30 Jahren die meisten Präsidenten gestellt hat – beizubringen, dass es einen von Menschen erzeugten Klimawandel gar nicht gibt, dass nur böse und schlaue Linke ihn erfunden hätten, um die Freiheit der Märkte besser sabotieren und zerstören zu können.

II.
Wir haben uns schon daran gewöhnt, dass Politiker, wenn sie vom politischen Geschäft genug haben oder glauben, am oberen Ende ihrer Karriereleiter angekommen zu sein, sich von der Politik verabschieden. Hermann Scheer konnten wir uns gut vorstellen ohne politisches Mandat, ohne Sitz im Parlament. Aber niemals ohne Engagement, ohne Wirksamkeit für das, was er für richtig und vor allem für nötig hielt. Er war immer im Dienst, im Dienst an seiner Sache. Und wir hielten es für selbstverständlich, dass dies so bleiben würde, noch viele Jahre. Und Hermann hatte, was in unserer Gesellschaft am meisten zählt: Erfolg, auch wenn er guten Grund hatte, darüber nicht zu reden. Wer unter uns kann schon von sich sagen, dass er ein wichtiges, geniales Gesetz angeregt und durchgesetzt hätte, das dann selbst zum Exportschlager in Dutzende von Ländern geworden ist?

Hermann beherrschte das Handwerkszeug der Wissenschaft. Er konnte in seinen Büchern sehr wohl mit Zahlen und Argumenten umgehen, er konnte vorrechnen, warum erneuerbare Energien auf Dauer auch billiger sind, ökologisch und sogar ökonomisch weniger kosten. Aber ihm ging es letztlich nicht nur um neue Energiequellen, sondern um eine neue Gesellschaft. So wie die fossilen Energiequellen, ergänzt durch die Atomenergie, eine bestimmte Form des Kapitalismus hervorgebracht hätten, so sollte – und musste – die dezentrale Gewinnung erneuerbarer Energien eine neue, freiere, weniger vermachtete, offenere, vor allem aber eine zukunftstaugliche Gesellschaft zur Folge haben. Das war auch der Grund dafür, dass ihm Großprojekte auch dann suspekt waren, wenn sie aussahen wie ein Triumph der Sonne über Öl und Atomenergie. Auch ein Grund dafür, dass er in seinem letzten Buch schreiben konnte: „Der suggerierte Konsens über erneuerbare Energien lenkt davon ab, dass die eigentlichen Konflikte erst begonnen haben.“

Er, der in seinem Leben mehr erreicht und bewirkt hat als fast alle, die je in Bonn oder Berlin im Kabinett saßen, sah sich noch längst nicht am Ziel. Und so klingt der kleine Absatz, mit dem er die Einleitung zum letzten Buch abschließt, wie ein Vermächtnis:

„Mein Ausgangspunkt sind nicht die erneuerbaren Energien; sondern die Gesellschaft – aus der Erkenntnis, welche elementare Bedeutung der Energiewechsel für deren Zukunftsfähigkeit hat. Ich bin nicht von den erneuerbaren Energien zur Politik für diese gekommen, sondern aus meiner Problemsicht und von meinem Verständnis politischer Verantwortung zu den erneuerbaren Energien. Der Wechsel zu erneuerbaren Energien hat eine zivilisationsgeschichtliche Bedeutung. Deshalb müssen wir wissen, wie wir ihn beschleunigen können. Knapp sind nicht die erneuerbaren Energien, knapp ist die Zeit.“ (S. 27f)

Als Hermann dies schreib, wusste er noch nicht, und wir ahnten es auch nicht, wie knapp seine Zeit bemessen war. Sein Tod kam wie ein Schlag.

Ich fand immer, dass er mir, was Kraft, Ausdauer und Durchhaltevermögen angeht, weit überlegen war. Dass ich, der 18 Jahre Ältere, ihn überleben würde, hätte ich noch vor drei Wochen für einen schlechten Scherz gehalten.

Als ich Landesvorsitzender der SPD in Baden-Württemberg war, stand Hermann an der Spitze der Jusos. Wir waren damals, in der zweiten Hälfte der Siebzigerjahre, zusammen mit dem Landesverband Schleswig-Holstein, die ökologische Vorhut der Partei. In Reutlingen fand 1975 die erste Konferenz einer politischen Partei statt, in der die Atomenergie nicht mehr einfach als selbstverständlich, als wichtige technische Innovation hingenommen oder gar gefeiert wurde. Carl Friedrich von Weizsäcker, obwohl Berater der Bundesregierung, wagte es damals, seine Zweifel zögernd und vorsichtig zu äußern. Damit begann die politische Debatte zur Atomenergie. Bis kurz davor, in den Sechziger- und Fünfzigerjahren, bestand Energiepolitik in Deutschland darin, dass die Wirtschaftsministerien des Bundes und der Länder Prognosen für den Energieverbrauch mit riesigen Zuwachsraten publizierten – die meist von den Energieversorgern abgerufen waren – und die Politik sich dann bemühte, diese Mengen bereitzustellen. Die Frage, wie sie das tat, mit Steinkohle, Braunkohle, Erdöl oder Atomkraft, blieb den Experten und den Konzernen überlassen. Eine politische Diskussion darüber gab es noch nicht – für uns heute kaum vorstellbar. Dass die Methoden der Energiegewinnung politisch relevant waren, mussten wir erst lernen. Für die Jungen, für Hermann, war dies leichter als für die Alten. Dass es hier aber um Kernfragen geht, solche von „zivilisationsgeschichtlicher Bedeutung“, das lernten wir erst später, vor allem von ihm, von Hermann Scheer.

In den letzten Jahrzehnten bin ich oft gefragt worden, warum ich keine Bücher mehr zu ökologischen Themen schreibe. Meine Antwort war: Das tun jetzt Jüngere, und sie tun es besser, als ich es könnte. Dann nannte ich Namen, immer zuerst den von Hermann Scheer. Mich trieb um, wie eine marktradikale Welle jede Art von Politik diskreditierte, weil der Markt immer klüger sein sollte als die Politik. Ich begnügte mich mit dem Bemühen, unsere Gesellschaft wenigstens offen zu halten für das, wofür Freunde wie Hermann Scheer nun stritten. Eine Zukunftsfähigkeit durch Politik, die der Markt nicht liefern konnte.

III.
Wer sich ein bisschen mit Hermanns Biografie beschäftigt, stößt auf viele Ehrungen. Sie haben meist im Ausland stattgefunden. Einen Ehrendoktor bekam er in Bulgarien, den alternativen Nobelpreis in Stockholm, einen Solarpreis in Wien, andere Preise in Sevilla, in Peking, natürlich auch einen in den USA, wo Time Magazine ihn zum Helden des Grünen Jahrhunderts ernannte.

Es gibt wenige deutsche Politiker, von denen Time Magazine je Notiz genommen hat, und die hatten hohe Ämter. Hermanns Arbeit, sein Wirken ging weit über die nationalen Grenzen hinaus. Seine Bücher wurden in viele Sprachen übersetzt. Nicht nur ins Englische, Französische und Spanische, auch Italiener, Russen, Tschechen, Ungarn, Japaner, Chinesen, Araber konnten – und wollten – lesen, wie er sich das Solarzeitalter vorstellte und welcher Weg dahin führt. Hermann Scheer hat seine Aufgabe als globale Pionierarbeit verstanden, und so wurde sie auch wahrgenommen.

Man muss sich nur fragen, von wem sonst unter den Deutschen von heute man so etwas sagen könnte, um das Außergewöhnliche dieses Lebens zu erkennen. Überall, wo wir mit dem Außergewöhnlichen zu tun haben, leidet manchmal das Gewöhnliche, das Gewohnte, das Normale. Es wäre ja unmenschlich, jenseits des Menschlichen, wenn es bei soviel Licht nicht auch Schatten gegeben hätte. Den fehlerlosen Menschen – und erst recht den idealen Politiker – gibt es nicht, es sei denn als kitschiges Klischee, erdacht von ganz unpolitischen Menschen.

Die politischen Gestalten, die wirklich etwas bewegt haben, sind nicht die Schwiegersöhne – oder Schwiegertöchter – aus dem Bilderbuch, es sind auch nicht Menschen, die besonders viel Geist und Witz versprühen. Es sind Menschen, die gepackt sind, geleitet sind, manchmal geplagt und gepeinigt sind von einem Geist der Verantwortung für das Ganze und die gar nicht anders können, als etwas zu wagen, was andere (noch) für töricht halten. Hermann war ein mutiger Mensch, so mutig, dass er selber kaum merkte, wie mutig er war.

Viele von uns haben einen Weggefährten, manche einen Freund verloren. Die Bundesrepublik Deutschland aber hat einen um dieses Land verdienten Politiker verloren, den sogar die nicht so rasch vergessen werden, die ihn gerne vergessen möchten.

Facebook

Jusos Rems-Murr

Unsere Jusos stellen sich und ihre Arbeit vor und freuen sich auf Ihren Besuch. www.jusos-rems-murr.de